Deutschland gegen Argentinien - so war es wirklich!

06.07.2006 ° °

Deutschland-Argentinien

6 Tage ist es nun bereits her, und zwischenzeitlich ist die deutsche Mannschaft bekanntlich gegen Italien ausgeschieden. Mein Live-Erlebnis im Berliner Olympiastadion, das Viertelfinale Deutschland gegen Argentinien, ist mir aber immer noch gut im Gedächtnis – und das wird es auch bis ans Ende meiner Tage bleiben.

Los ging alles bereits vor etwa 6 Monaten, bei der zweiten Runde der FIFA-Kartenausschüttung. Bis dahin hatte ich mir eigentlich vorgenommen, diesen ganzen Mist mit Personalausweisnummer angeben etc. nicht mitmachen zu wollen, da mir die Chance zu gering schien, überhaupt eine Karte zu bekommen. Mein alter Schulfreund Kai , wohnhaft in Hamburg, konnte mich jedoch bei einem Nachmittags-Chat zum Glück dazu überreden, es einfach mal zu probieren – und so nahmen wir die Prozedur auf uns, meldeten uns für 7 Spiele (5 Vorrundenspiele, das 1. Viertelfinale sowie das Finale) an, und ein paar Wochen später trudelte eine Email mit der frohen Botschaft ein: 2 Tickets für das Spiel #57, Viertelfinale! Kategorie 2, "sichtbehindert". Die Sichtbehinderung war dann zum Glück nicht wirklich schlimm, aber dazu später.

Jedenfalls war von dem Moment an, in dem uns die Karten sicher waren, das Fußball-WM-Fieber bei mir vollends durchgebrochen. Ich bin ja sicher kein absoluter Fußballfanat, verfolge die Bundesliga nur gelegentlich, aber die Turniere haben mich natürlich schon seit frühester Kindheit fasziniert.

Der Countdown zur Fußball-WM war ja allgegenwärtig, und für "mein" Spiel kamen noch +21 Tage dazu. Welche Partie sollte es aber werden? Sicher war nur: Eine Mannschaft aus den Gruppen A/B gegen eine aus C/D. Die Gewinner der Partien 1.A/2.B und 1.C/2.D. Deutschland-Holland? England-Argentinien? Ecuador-Mexiko? Deutschland-Argentinien?

Dass es letztere war, war natürlich erst nach den Achtelfinals klar, wo Deutschland sich klar und Argentinien mit Mühe durchsetzen konnte. Aber beide Mannschaften wurden inzwischen (Argentinien wohl schon vor dem Turnier) als Top-Favoriten für den Pokal gehandelt. Was haben wir uns gefreut… DAS SPIEL der WM bis dato, wir hatten tatsächlich das große Los gezogen! Das Finale von 1986, als Deutschland unglücklich gegen Argentinien verlor, ist überhaupt das allererste Spiel, an das ich mich noch erinnern kann.

Nun denn, genug des Vorgeplänkels. Ich fuhr am Donnerstag, einen Tag vorm Spiel, mit dem Zug nach Berlin, die Tickets stets unterm T-Shirt im sicheren Brustbeutel verwahrt. Mit Felix (ein anderer Schulfreund) verfeierte ich den Abend, und am nächsten Morgen war ich schon vor 8 Uhr wach, ich konnte einfach nicht mehr schlafen vor Aufregung. Kai saß zu der Zeit bereits im Flieger von Mailand (wo er geschäftlich für einen Tag hinmusste) nach Berlin. Wir trafen uns um 14 Uhr in Felix Wohnung, freuten uns wie die kleinen Kinder auf das Ereignis und begossen das natürlich wie die großen Kinder erstmal mit einem lecker Bier (Radeberger!).

Kai hatte ja die Woche zuvor in Hamburg bereits das Spiel Saudi-Arabien – Ukraine (0:4) gesehen, und konnte so meine Bedenken zerstreuen, dass wir auf Grund von unmäßigen Körperkontrollen und chaotischen Zuständen rund um die WM-Stadien zu spät kommen könnten. Alles easy.

Deutschland-Argentinien

Etwa um halb Vier (Anpfiff: 17:00) trafen wir also am Stadion ein, was locker reichen sollte. Wir waren beide schon in der S-Bahn wahnsinnig aufgeregt, logisch, dann noch der lange Weg zum Stadion zwischen den Tausenden Fans, dann endlich der große Vorplatz des Stadions. An jeder Ecke versuchten Leute, Karten zu kaufen oder zu verkaufen, die Polizei sah darüber hinweg, aber wir hatten ja unsere Tickets bereits und wären gar nicht auf die Idee gekommen, für ein paar hundert Euro alles sausen zu lassen.

Die Einlasskontrolle – ein knapper Kilometer war es wohl noch bis zum Stadion – ging fixer als erwartet. In breiter Front wurden alle Zuschauer abgetastet, die Eintrittskarten kurz beäugt, die Taschen durchsucht, aber nach 5 bis 10 Minuten waren wir schon durch. An Kais Großherzogtum-Baden-Flagge wurde der zu lange Stiel bemängelt (eine in Felix Wohnung gefundene Dachlatte), also brach der Security ein Stück ab und schleifte noch die Splitter rund. Ein Meter ist erlaubt!

Nun befand man sich in der Sponsoren-Zone. Ungefähr jeder der dem WM-Fan inzwischen hinlänglich bekannten Hauptsponsoren und nationalen Förderer hatte hier einen Stand, oft mit Späßchen wie Torwandschießen und Ähnlichem. Für uns relevant war allerdings nur die Grundversorgung mit Bier und Brezeln. Ein 0,4l Anheuser Busch Bud Lager kostet 3,50 Euro plus ein Euro Pfand – also gar nicht mal so unverschämt, ich hätte auf 5 Euro getippt. Das Bier schmeckt übrigens zu wässrig und zu süß. Ami-Plörre. Eine große Brezel für 3 Euro und eine Käsestange für 3,50 packten wir uns auch noch, und dann wollten wir doch endlich mal ins Stadion.

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Eine zweite Einlasskontrolle kam circa 50 Meter vorm Stadion. Hier musste man seine Karte in ein Lesegerät schieben. Geschafft! Wir standen endlich direkt vorm Olympiastadion – diesem Koloss mit majestätischer Ausstrahlung und vielseitiger Geschichte. Ich war noch nie dort gewesen, Kai hatte bereits bei zwei Hertha-Spielen Probe gesessen.

Die Stimmung unter den Fans war natürlich super, auf beiden Seiten. Das Wetter war optimal, leicht bewölkt, aber warm genug fürs T-Shirt (oder Trikot). Kai kann ja fließend Spanisch und scherzte noch mit ein paar Argentinien-Fans herum.

Bis wir zu unserem Block kamen, mussten wir noch um das halbe Stadion herum. Dann, endlich, der große Moment: nochmal die Tickets zeigen, die letzten Treppen hinab – und plötzlich steht man mittendrin. Dadurch, dass das Stadion in den Boden eingelassen ist, kommt man von oben in die Ränge hinein, was alles noch imposanter erscheinen lässt. Zuvor war mein größtes Stadion das des SC Freiburg – Berlin fasst dreimal so viele Zuschauer, 72.000 sollten es an diesem Tag sein, ausverkauft (wer hätte das gedacht).

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Wir hatten noch eine knappe Stunde bis zum Anpfiff. Wir sichteten unsere Plätze, die direkt neben einer Plexiglaswand lagen, die jedoch nicht wirklich sichtbehindend wirkte. Lediglich eine Eckfahne mussten wir uns "durchs Glas" ansehen.

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Die Mannschaften waren gerade im Begriff, sich aufzuwärmen. Ich versuchte jeden einzelnen Spieler ausfindig zu machen, was auch recht gut gelang (zumindest bei der deutschen Mannschaft). Die Sicht war wirklich gut, obwohl wir etwa auf halber Höhe der Ränge saßen. Nachdem die Spieler wieder in die Kabine marschierten, gingen wir nochmal pinkeln und bewaffneten uns mit weiterem Bier. Der Preis war im "inneren Ring" nun bei 4 Euro pro Becher, das Bier schmeckte immer noch zu süß und zu wässrig. Ami-Plörre! Die Warteschlangen waren dafür aber erträglich, man stand keine 3 Minuten an.

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Ihr kennt das Programm: die Fahnenträger kommen raus, die Mannschaften kommen raus, die Hymnen werden gespielt. Im proppenvollen Stadion ist das wirklich ergreifend. Ich bin noch nie Patriot gewesen, und meine einzige Bekundung zu Deutschland an diesem Tag war ein Panini-Owomoyela-Sticker an meiner Boardstein-Meshcap. Aber ich war natürlich für "unser" Team, und ja, ich gebe es zu: ich habe die Hymne mitgesungen, jedenfalls die Stellen des Textes, die mir einfielen. Das komplette Stadion hat gesungen. Und es war schön.

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Anpfiff. Nach monatelangem Hinfiebern ENDLICH der Anpfiff! Die Stimmung im Block, im ganzen Stadion, ist nur schwer zu beschreiben. Die beiden argentinischen Blöcke machten sogar noch ein bisschen mehr Party. Wir saßen schräg gegenüber von der Ehrentribüne, und ich ärgerte mich, dass ich mir nirgends ein Fernglas ausgeliehen hatte. So konnte ich unsere Angie nicht erkennen, und erfuhr erst abends, dass Maradona gar nicht da war!

Ich versuchte, jeden Spielzug in mich aufzusaugen. Live im Stadion sieht man ein Spiel vollkommen anders als im Fernsehen. Es gibt keine Zeitlupen (gut, manchmal auf den großen Monitoren, aber da achtet man kaum drauf), man hört keinen dummen Kommentator. Man ist mittendrin. Man sieht ständig das komplette Feld, sieht wie sich die Mannschaften komplett auf dem Feld verschieben, sich Räume öffnen und wieder schließen. Man kann die Bewegungen einzelner Spieler verfolgen, bekommt keine Kameraeinstellungen vorgesetzt.

Und man sieht, wie die Jungs auf dem Rasen sich verdammt noch mal tierisch ins Zeug legen, einer wie der andere. Es war schnell klar, dass hier wirklich auf absolutem Weltklasseniveau gespielt wird. Intelligente Spielzüge auf beiden Seiten, harte Einsätze, ohne unfair zu werden. Einige gute Torchancen, aber eben kein Tor in der ersten Halbzeit. Das Spiel war nach 45 Minuten vollkommen offen.

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Eine Halbzeit reicht gerade so, um pinkeln zu gehen und zwei neue Bier pro Nase zu holen. Da die Schlangen an den Klowägen einfach viel zu lang waren, pinkelten viele einfach von außen dran.

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Tja, ihr habt es alle selbst im Fernsehen gesehen: plötzlich fiel das Tor für Argentinien. Ein Schock. Betretenes Schweigen oder leises Fluchen. Lauthalser Jubel aus Richtung der Gästeblocks und bei einzelnen Argentinienfans inmitten der Deutschen.

Aber die Mannschaft in Weiß ließ die Köpfe nicht hängen, sondern spielte jetzt erst recht nach vorn. Das komplette Stadion hörte nicht mehr auf zu singen, zu schreien, zu klatschen. Während in der ersten Halbzeit alle paar Minuten bei besonders spannenden Szenen aufgestanden wurde (oder wenn mal wieder jemand "Steht auf wenn ihr Deutsche seid" intonierte – man muss dann leider auch aufstehen, sonst sieht man nichts mehr), war ab dem ersten Tor Dauerstehen angesagt. Es ging hin und her, hart auf hart, und wir waren uns alle sicher, dass Deutschland den Rückstand aufholen würde. In der 62. Minute kam endlich Odonkor, der mit tosendem Applaus begrüßt wurde ("Flankengott!"). Der ist schnell!! In echt sieht das noch schneller aus als im TV! Und dabei noch diese Ballkontrolle und Zweikampfstärke… ja, da unten auf dem Platz waren nun mal einige der besten Fußballer der Welt versammelt.

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In der 71. Minute (ich habe mir die Zahlen nicht gemerkt, sondern hier gespickt) musste der argentinische Torwart nach einer Kollission mit Klose ausgewechselt werden. Natürlich haben die Zuschauer erstmal gepfiffen, wir glaubten an Zeitspiel. Als Abbondanzieri mit der Bahre vom Platz getragen wurde, hörten die Pfiffe natürlich auf. Man ist als Zuschauer einigermaßen fair, Argentinien ist schließlich auch eine hochrespektable Mannschaft. Auch bei der argentinischen Hymne hörte man übrigens nicht einen Pfiff.

Aber 0:1 – und die Zeit lief langsam davon! Borowski kam nun für Schweinsteiger.

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80. Minute, die Erlösung! Klose köpft nach wunderbarer Vorlage via Ballack und Borowski ein. Wahrscheinlich hat ganz Deutschland gewackelt, aber das Stadion ganz besonders. Ich glaube wir haben bis zum Abpfiff der regulären Spielzeit nur noch gesungen, geschrien und gejohlt. Neuville kam in der 86. für den Torschützen, aber der Siegtreffer kam und kam nicht.

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Verlängerung. Inzwischen musste ich wieder pissen wie ein Rennpferd. Aber keine Zeit, aufs Klo zu gehen – es war verdammt noch mal viel zu spannend, um auch nur eine Minute des Spiels zu verpassen. Dann lieber Schmerzen. Die Spieler leiden schließlich auch. Und wir hofften, und wir waren zuversichtlich…

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Nachdem auch in der Verlängerung kein Tor fiel – trotz immenser Anstrengungen auf beiden Seiten – kam es also tatsächlich zum Elfmeterschießen. Wir sollten was kriegen für unser Geld! Die ersten SMS von Freunden trafen ein: "Du Sau siehst das geilste Spiel der WM, den Krimi!"

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Deutschland hat noch nie im Elfmeterschießen verloren, das wusste wahrscheinlich jeder im Stadion. Neuville versenkte den ersten Elfer – frenetischer Jubel. Julio Cruz trifft. Mist. Egal, weiter. Jetzt Ballack – jawoll! Dann Alaya – und Lehmann hält den Ball fest! Wahnsinn, was jetzt los war. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns sowas von sicher, dass die Deutschen das Ding nach Hause fahren. Podolski – trifft! Maxi Rodriguez allerdings auch. Borowski, mach ihn rein – und er macht es! Und schließlich Cambiasso: Lehmann wehrt seinen Schuss ab!

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Was dann los war, könnt ihr euch vielleicht vorstellen. Mit 70.000 feiernden Leuten in einem Stadion, das war schon der Wahnsinn. 

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Von dem anschließenden Gerangel, das noch eine rote Karte für Cufre und 2 Tage später eine Sperre für Frings brachte, haben wir überhaupt nichts mitbekommen. Wir freuten uns einfach nur mit der Mannschaft, mit dem ganzen Stadion und mit dem ganzen Land.

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 Hier könnt ihr dank youtube nochmal das ganze Elfmeterschießen angucken, wenn ihr wollt. 



Die deutsche Mannschaft wurde mit langen Standing Ovations in die Kabine verabschiedet. Dann erstmal kurz pinkeln gehen – endlich! – und nochmal ins Stadion rein. Nach und nach leerten sich die meisten Plätze, und Kai und ich saßen einfach nur da, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, und genossen das Gefühl des Sieges, oder besser gesagt das Gefühl soeben etwas Großartiges miterlebt haben zu dürfen.

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Während die deutschen Fans ausgelassen feierten, waren die Argentinier natürlich ziemlich bedrückt. Aber ich glaube, die meisten haben es "uns" trotzdem ein wenig gegönnt.

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Kai und ich bewegten uns schließlich zur S-Bahn (in der natürlich auch gesungen und gefeiert wurde) und fuhren mit zweimal Umsteigen und Riesenfressattacke (Gemüsecheeseburger und Cheese'n'Chili-Soja-Hot-Dog) durch die ganze Stadt Richtung Prenzlauer Berg, um Felix und ein paar andere Berliner bei einem Alternativ-Style-Public-Viewing zu treffen. Als wir ankamen, stand es bereits 3:0 für Italien. Wir hatten natürlich inzwischen schon ordentlich einen sitzen, obwohl das Anheuser Busch Bud Lager garantiert nicht annähernd auf den Alkoholgehalt einheimischer Biersorten kommt, und konnten somit nahtlos mit den Anderen weiterfeiern. Aber wir hatten ein ganz besonderes Glänzen in den Augen. Deutschland-Argentinien. Was für ein Spiel.

Und ich habe es immer noch nicht komplett mit Kommentar gesehen. Wer es aufgenommen hat, möge sich bei mir melden!