
Diese Woche hatte ich eine der verrücktesten Begegnungen, die mir bisher widerfahren ist. Die Geschichte handelt von Piet, Camille und Lion – alle Namen geändert aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes.
Wir waren abends einkaufen im örtlichen Netto – die Kinder und ich. Beim Zurückbringen des Einkaufwagens habe ich das vorm Laden sitzende Pärchen mittleren Alters kurz beäugt – schwer bepackte Fahrräder mit vielen Taschen und ein handgeschriebenes Schild, sinngemäß “On the road without any financial support”. Hab ihnen die 50 Cent aus dem Wagen gegeben, und sein Akzent verriet mir, dass er Niederländer ist. Wir kamen kurz ins Gespräch, er zeigte mir ihren mitreisenden Kater Lion, der im Fahrradkorb schlummerte, und ich holte die Kinder dazu, um ihnen das süße Tier zu zeigen.
Piet fragte mich, ob ich Skateboard fahre (ich hatte einen Missions-Hoodie an) und erzählte gleich ganz begeistert, dass er früher auch viel geskatet ist, und auch mal in der Area51 Skatehalle in Eindhoven gearbeitet hat. Es stellte sich heraus, dass er und Camille, die aus dem Baltikum stammt, seit 13 Jahren zusammen auf der Straße leben, in ganz Europa unterwegs sind, und derzeit an einem Comic arbeiten. War ein nettes Gespräch, sie waren auch ernsthaft interessiert an meinem Skateshop und konnten gar nicht glauben, dass es so etwas in diesem Dorf gibt. Ich gab ihnen ein paar Sticker aus meiner Jackentasche und meinte, sie können mich gerne mal über die Website kontaktieren.
Am nächsten Vormittag bekam ich eine Email via Kontaktformular von Piet. Er war ganz begeistert von meiner Mission, hat sogar ein paar Videos von mir auf Youtube angesehen, und erzählte ein paar witzige Geschichten aus seiner Skateboarding-Zeit. Außerdem, dass sie unter der Brücke hinterm Netto geschlafen haben, Camille gerade etwas schlecht Luft bekommt und sie später einen Ort weiterziehen möchten.
Wetter war kurz vor Schneeregen, ich schrieb also spontan zurück, dass sie doch eine Nacht bei mir im Gästezimmer pennen sollen.
Ein paar Stunden später standen die Fahrräder bei mir im Flur, und zwei Menschen, die extrem viel durchgemacht haben, freuten sich über die Möglichkeit sich aufzuwärmen, Wäsche zu waschen und warm zu duschen. Für Camille besorgte ich ein Asthmaspray. Die beiden besitzen derzeit weder gültige Ausweise noch eine Krankenversicherung. Aus einer Nacht wurden zwei. Ich hatte bei den beiden nie das Gefühl, mir Sorgen um meine Besitztümer oder irgendetwas machen zu müssen.
Am ersten Abend habe ich Pizza für alle gemacht, am zweiten kochten sie lecker – es gab Linsenburger mit typisch holländischem Kartoffelstampf. Sie zeigten mir das Comic, an dem sie zusammen arbeiten. Piet ist ein unglaublicher Künstler, das wird ein WIRKLICH gutes Comicbuch mit mehreren Kapiteln, erstklassig gezeichnet mit zahllosen witzigen und tiefgründigen Details, und tollen, ungewöhnlichen Perspektiven. Die Charaktere basieren auf Personen, die sie in den letzten Jahren kennengelernt haben. Die Story ist crazy, kompliziert und völlig durchdacht. Ich hoffe, dass sie es schaffen, das Werk fertigzustellen und zu veröffentlichen.
Ich bat Piet, die Wand in meinem Skate-Flur zu besprühen, was er mit Freude tat. In früheren Zeiten hat er viele illegale Graffitis gemalt. Beide waren recht redselig über ihre Vergangenheit, ihre Erlebnisse auf der Straße, und über ihre Sicht der Welt. Es waren wirklich unfassbare Geschichten dabei, aber ich habe keinen Grund an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Da waren viele menschliche Abgründe und Dunkelheit – teils lebendsbedrohliche Begegnungen mit Polizei, Gangs, Junkies und anderen Obdachlosen. Eine völlig andere Welt – die der Gesetzlosen, die derjenigen, die durch jedes Raster gefallen sind.
Die Gründe, wie sie dahingeraten sind, und warum sie da nicht rauskommen – kompliziert, teils schwer nachvollziehbar für mich, und darüber mag ich auch nicht urteilen. Aber sie erzählten mir eben auch von vielen Begegnungen mit hilfreichen Menschen, wie z.B. dem Schweizer Zahnarzt, der Piet das Gebiss einmal komplett renoviert hat, im Tausch gegen ein Bild. Oder von Schrott sammelnden “Gypsies” am Rand einer Müllhalde in Griechenland, denen sie den kaputten Reifen am Handwagen geflickt haben, worauf diese sie am liebsten dauerhaft in ihre Gemeinschaft aufgenommen hätten – inklusive Bauplatz für die eigene Hütte neben
der Müllhalde.
Jedenfalls war ich fasziniert davon, wie reflektiert und intelligent die beiden gesprochen haben, welch tiefes Wissen sie in Kunst und Philosophie besitzen, und auch wie vergleichsweise gepflegt sie wirken, trotz des Lebens auf der Straße, und obwohl sie Alkoholiker sind. Kein Schnaps und keine harten Drogen allerdings! Piets Pegel liegt meistens um die 1.6 Promille, bestätigt durch polizeiliche Kontrollen in verschiedenen Ländern Europas.
Ebenso war ich erstaunt darüber, wie gut sie mit ihren Habseligkeiten organisiert sind, doch das ist wohl eine Grundvoraussetzung, so überleben zu können. In ihrem Gepäck befinden sich zahlreiche Skizzen- und Notizbücher, ein Handy, ein MacBook und eine Bluetooth Box, und eine komplette mobile Küchenausstattung – sie kochen täglich warm. Sie versuchen nach den 10 Geboten zu leben, ohne dabei religiös zu sein.
Am 3. Tag schien wieder die Sonne, sie packten ihre ganzen frisch gewaschenen und getrockneten Sachen ein, und bereiteten die Weiterreise Richtung Norden vor. Sie haben ein kurzfristiges Ziel, wollen jemanden treffen, der ihnen mit der Ausweisproblematik weiterhelfen kann. Als langfristiges Ziel wünschen sie sich einen Wagen mit 2 Pferden, um weiter durch die Welt zu ziehen. Aber in den Erzählungen waren auch immer wieder die dunklen und schweren Gedanken zu hören. Wie lange das noch so weitergeht, wie schmerzhaft die Arthrose ist, und ob das Leben so überhaupt noch lebenswert sei.
Der 10 Jahre alte Kater Lion war übrigens völlig entspannt, er schlief die meiste Zeit im Gästezimmer. Mit meinen beiden verwöhnten, naiven jungen Katzen wurde sich mal kurz beschnuppert, aber dann gefaucht.
Piet und Camille haben meinen Flur und meine Küche komplett aufgeräumt, während ich nebenan im Laden arbeiten war. Das hat mir etwas zu denken gegeben… ein obdachloses Pärchen zu Besuch, das mir klarmacht, dass ich ein ziemlicher Chaot bin mit Tendenz zum Messie. Sie hatten aber volles Verständnis dafür, denn sie konnten mich psychologisch wie ein Buch lesen und mir hier und da Denkanreize gegeben, mein Leben und die Welt mal aus anderer Sichtweise zu betrachten.
Ja, wir haben uns wirklich gut verstanden und auf Augenhöhe unterhalten, meist auf Englisch übrigens, aber sie sind beide sehr bewandert in vielen Sprachen. Was heißt nochmal guten Appetit auf Nepalesisch…
Piet hat den Auftrag von mir bekommen, bei Gelegenheit ein schönes Logo oder Boarddesign für die Mission zu gestalten, nach seinen eigenen Ideen. Ich bin gespannt, wie es aussehen wird. Und vor allem möchte ich wissen, wie das Leben der Beiden – der Dreien! – weiter verläuft. Sie werden sicher nochmal in der Gegend hier vorbeikommen und einen Platz zum Auftanken vorfinden.


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